Im Jahr 2021 wurden bei 1,1 % der Rezeptzeilen, bei denen ein aut idem - Austausch möglich war, pharmazeutische Bedenken dokumentiert.
01.04.2023 Gradl G Kieble M
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Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) im Jahr 2007 mussten in Apotheken vorrangig Präparate abgegeben werden, für die ein Rabattvertrag nach § 130a Abs. 8 SGB V besteht – sofern die aut idem -Substitution nicht vom Arzt ausgeschlossen wurde [1]. Seit dem 1. April 2008 besteht die Möglichkeit, von der Abgabe eines rabattierten Präparats im Einzelfall abzuweichen, wenn pharmazeutische Bedenken nach § 17 Abs. 5 ApBetrO vorliegen. Diese bestehen, wenn „trotz zusätzlicher Beratung des Patienten der Therapieerfolg oder die Arzneimittelsicherheit“ gefährdet sind [2]. Am 1. Juli 2019 trat eine neue Fassung des Rahmenvertrags über die Arzneimittelversorgung in Kraft, nach der vorrangig eines der vier preisgünstigsten Präparate abzugeben ist, sofern kein Rabattvertrag besteht oder die Abgabe rabattbegünstigter Fertigarzneimittel nicht möglich ist [3]. Seitdem können pharmazeutische Bedenken nicht nur gegen die Abgabe von Rabattarzneimitteln erhoben werden, sondern auch gegen die Abgabe von preisgünstigen Arzneimitteln inklusive Importen. 
Das Deutsche Arzneiprüfungsinstitut e.V. (DAPI) hat untersucht, wie häufig und bei welchen Wirkstoffen im Jahr 2021 bei Abgaben von Fertigarzneimitteln zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) pharmazeutische Bedenken dokumentiert wurden. Dabei wurde die Recherche auf Rezeptzeilen eingeschränkt, bei denen die Anmeldung von pharmazeutischen Bedenken gemäß Rahmenvertrag theoretisch möglich gewesen wäre. Diese Rezeptzeilen machten im Jahr 2021 76 % aller zulasten der GKV abgegebenen Fertigarzneimittel aus. Bei insgesamt 1,1 % dieser Abgaben gab es gemäß der diesbezüglichen Dokumentation pharmazeutische Bedenken gegen die Abgabe eines rabattbegünstigten oder eines preisgünstigen Fertigarzneimittels. 
Welche Gründe im Einzelfall zu den Bedenken geführt hatten, ist mit den Abrechnungsdaten der DAPI-Datenbank nicht ermittelbar. Die Beispiele zu den zehn wichtigsten Wirkstoffen bzw. Wirkstoffkombinationen mit Dokumentation pharmazeutischer Bedenken (siehe Tabelle) zeigen jedoch, dass es sich in aller Regel um fachlich plausibel begründbare Fälle handelte. So kamen diese besonders häufig bei Arzneimitteln mit speziellen Arzneiformen vor. Dazu gehörten z. B. Täfelchen mit dem Wirkstoff Lorazepam und Schmelztabletten mit dem Wirkstoff Ondansetron. In diesen Fällen wurde das abgegebene Präparat häufig nicht gegen die rabattierte oder preisgünstigere Darreichungsform „Tablette“ bzw. „Filmtablette“ ausgetauscht. Gegen einen Austausch von Inhalativa mit den Wirkstoffen Ipratropiumbromid, Beclometason oder der Wirkstoffkombination Salmeterol und Fluticason spricht das häufige Auftreten von Anwendungsfehlern, wenn es sich beim Austausch um Präparate unterschiedlicher Handhabung handelt [4]. Austauschbare Fertigspritzen zur Injektion von Methotrexat können den Wirkstoff in unterschiedlichen Konzentrationen enthalten, was unterschiedliche Injektionsvolumina zur Folge hat. 
Neben den Besonderheiten der Arzneiformen kann auch die Art der Erkrankung dazu beitragen, dass pharmazeutische Bedenken geltend gemacht werden [2]. Dies kann der Fall sein bei schwerwiegenden Erkrankungen, bei welchen eine mögliche Verunsicherung des Patienten oder der betreuenden Person durch einen Präparatewechsel vermieden werden soll, wie beispielsweise bei Arzneimitteln zur Behandlung neurologischer bzw. psychiatrischer Erkrankungen (z. B. Levodopa), bei der Behandlung schwerer Schmerzzustände mit dem Opioid Tapentadol oder bei dem Immunsuppressivum Mycophenolsäure [5]. Zum hohen Anteil pharmazeutischer Bedenken bei Arzneimitteln mit parenteral applizierbaren Vitaminen können sowohl die Arzneiform als auch die Art der Erkrankung beigetragen haben. Die parenterale Ernährung von Patient*innen im häuslichen Umfeld ist bei Erkrankungen wie Tumoren, Kurzdarmsyndrom, schweren Motilitätsstörungen und Strahlenenteritis möglich [6]. Hierbei müssen die verschiedenen Komponenten der Ernährungslösung sorgfältig aufeinander abgestimmt und die physikochemische Stabilität der Mischung beachtet werden.
Die Beispiele zeigen, dass pharmazeutische Bedenken ein wichtiges Instrument darstellen, um die Arzneimittelversorgung von GKV-Versicherten in begründeten Fällen abweichend von der aus Krankenkassensicht ökonomisch sinnvollen Pflicht zur Substitution mit Rabattarzneimitteln und preisgünstigen Arzneimitteln auf unbürokratische Weise sicherzustellen.


[1]    Gradl G, Krieg EM, Schulz M. Evaluation of pharmaceutical concerns in Germany: frequency and potential reasons. Pharm Pract (Granada). 2016; 14 (3): 786.
[2]    Goebel R, Griese N, Schulz M. Pharmazeutische Bedenken: Tipps für die Praxis. Pharmazeutische Zeitung online. www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-382008/tipps-fuer-die-praxis/ (letzter Zugriff 7. März 2023).
[3]    GKV-Spitzenverband, Deutscher Apothekerverband. Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Absatz 2 SGB V mit Stand 1. Oktober 2021 zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Berlin und dem Deutschen Apothekerverband e. V., Berlin. www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/arzneimittel/rahmenvertraege/rahmenvertraege.jsp (letzter Zugriff 7. März 2023).
[4]    Kieble M. Im Jahr 2019 wurden bei Inhalativa zur Behandlung von Asthma und COPD 64 % häufiger pharmazeutische Bedenken in Apotheken dokumentiert als noch im Jahr 2016. www.dapi.de/aktuelles/zahl-des-monats/im-jahr-2019-wurden-bei-inhalativa-zur-behandlung-von-asthma-und-copd-64-haeufiger-pharmazeutische-bedenken-in-apotheken-dokumentiert-als-noch-im-jahr-2016 (letzter Zugriff 20. Februar 2023)
[5]    Kieble M. Im Jahr 2020 wurden bei 234 Tsd. in Apotheken abgegebenen Packungen von Antiparkinsonmitteln pharmazeutische Bedenken geltend gemacht.https://www.dapi.de/aktuelles/zahl-des-monats/im-jahr-2020-wurden-bei-234-tsd-in-apotheken-abgegebenen-packungen-von-antiparkinsonmitteln-pharmazeutische-bedenken-geltend-gemacht  (letzter Zugriff 20. Februar 2023)
[6]    Vetter K. Parenterale Ernährung: Versorgung via Vene. Pharmazeutische Zeitung online. www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-042010/versorgung-via-vene/ (letzter Zugriff 7. März 2023)